Der Tag nach dem Rheinmarathon
Erst am Tag nach dem Rheinmarathon merke ich, wie anstrengend es wirklich war. Ich schlafe mehr als 12 Stunden und jeder einzelne Muskel hat einen Kater. Hier ist die Reportage vom Stolz auf die Strapaze.
Die Nacht nach dem Rheinmarathon
Es ist schon halb neun, als ich am Sonntag wach werde. So lange schlafe ich sonst nie. Zumal ich am Samstag nach dem Rheinmarathon schon früh im Bett war. Ich denke nach: Ich weiß nicht mehr genau, um welche Uhrzeit ich vom Uerdinger Ruderclub UeRC zurück war, aber keinesfalls später als 20.30 Uhr. Dann habe ich noch lustlos in den Wassersäcken gekramt, die ich dabei hatte. („Auspacken“ konnte man das wirklich nicht nennen). Sogar das Duschen war mir zuviel und ich wollte erstmal ein kurzes Nickerchen auf der Couch machen. Daraus bin ich dann um 23 Uhr aufgewacht, unter die Dusche gewankt und dann ab ins Bett. Zwar konnte ich nicht sofort wieder einschlafen, aber ich musste unbedingt liegen. So ließ ich meine Augen noch eine Stunde über Buchstaben gleiten („lesen“ konnte man das wirklich nicht nennen) bis ich in einen tiefen Schlaf fiel.
Der Rheinmarathon im Rückblick
„Okay, halb neun“, denke ich mir beim Blick auf den Wecker. „Du könntest wirklich aufstehen!“ Doch mein Körper hat noch so gar keine Meinung zu dem Thema und so schließe ich erneut die Augen. „Wie aufgeregt ich gestern vor dem Start war“, erinnere ich mich an den Tag des Rheinmarathons.
Die ersten Meter auf dem Strom
Immer wieder musste ich zur Toilette. Mein Herz schlug schnell. Konzentration beim Ablegen vom Steg des RHTC Bayer Leverkusen, der voll in der Strömung des Rheins liegt. „Mannschaft voraus“, kam das Kommando von Dirk Tillmann, der als erster die Spardacus steuerte. Daraufhin zogen wir unsere Knie in den Bauch, beugten unsere Oberkörper nach vorne und breiteten unsere Arme aus.
Auf „und los“ senkten wir alle auf einmal die Ruderblätter ins Wasser, streckten unsere Beine, zogen die Hände zum inzwischen aufgerichteten Oberkörper und bewegten so das Boote ein Stück stromauf. Auf „Ruder halt“ stoppten wir die Bewegung. Jetzt hatten wir Gelegenheit, die Stemmbretter unserer Größe entsprechend einzustellen. Ich rückte mein Sitzkissen unter dem Gesäß zurecht, setzte mich aufrecht. Derweil trieb das Boot wieder stromab Richtung Zeitnehmer. Der hatte exakt unter dem Schild für Stromkilometer 695 Posten bezogen. Ein Hupen ertönte, von Dirk kam wieder das Start-Kommando und wir legten los, volle Kraft voraus. Mit aller Macht streckten wir die Beine gegen die Stemmbretter, zogen an den Skulls und nahmen schnell Fahrt auf.
Die Strecke des Rheinmarathon in der Erinnerung
Es lief gut zu Anfang. Besser als erwartet. Denn wir hatten in dieser Besetzung ewig nicht zusammen gerudert. Das lag nur zum Teil daran, dass Stefan Mostardt erst kurzfristig für den erkrankten Jörg Schauenburg eingesprungen war, der zusammen mit Dirk der Initiator für unsere Teilnahme an dem Großereignis war. Jeder von uns hatte immer wieder Pflichten, die ihn an gemeinsamem Training gehindert hatten. Andreas Birmes musste manchmal noch Unterricht vorbereiten statt zu trainieren, Dörte Gläsel war aus familiären Gründen verhindert. Aber Dörte, Andreas und Stefan rudern seit ihrer Jugend, damals auf Leistungssport-Niveau, und haben damit eine Technik, die ich wahrscheinlich nie mehr erreichen werde, obwohl ich mich seit mehr als 10 Jahren bemühe.
Industriekulisse wechselt mit Niederrhein-Idylle
Als Schlagmann gab Andreas den idealen Rhythmus vor für unser Vorrollen, Einsetzen und Durchziehen der Ruderblätter. Konzentriert folgten wir ihm. Ich genoss den Blick auf die Silhouette des Bayerwerks in Leverkusen, mit den unzähligen Schloten, den verwinkelten Rohren, die immer kleiner wurden. Nach der nächsten Kurve verschwand sie ganz. Statt dessen niederrheinische Idylle. Rechtsrheinisch weidete eine riesige Herde Pferde.
Spritzer für Dörte, die Frau im Bug
Immer wieder passieren wir Schiffe. Sie kommen uns stromauf entgegen oder sie überholen uns stromab. Bei vielen erzeugt bereits der Bug eine hohe Welle, viel höher als unsere Bordwand. Weil wir eine Abdeckung gebastelt haben und auch den Raum zwischen den Auslegern abgeklebt haben, ignorieren wir sie und fahren einfach weiter. „Ich bin naß geworden“, tönt es von Dörte, die auf ihrem Platz im Bug mehr als einen Spritzer abbekommt. Zeit zum Umziehen beansprucht sie nicht. So wie wir uns bei diesem Rheinmarathon anstrengen, wird ihr sicher nicht kalt.
Der Wettbewerbsgedanke beschleunigt uns
Wir passierten Piwipp, wo die Dormagener Rudergesellschaft Bayer ihr Gelände hat. Von deren Steg aus haben wir schon öfter für eine Tagestour hinunter nach Uerdingen abgelegt. Ich sage nur „Tagestour“. Einen ganzen Tag planen „normal“ wir für die Strecke von etwas mehr als 50 Kilometer ein! Ganz gemütlich, mit Pausen und Zeit zum Quatschen. Wenn beim Rheinmarathon alles gut läuft, würden wir die Strecke von 42,8 Kilometern in weniger als drei Stunden zurücklegen. Damit alles gut läuft, rudern wir schweigend und hochkonzentriert.
Steuermannswechsel nach 21 Kilometer
„Mit Rudern halt“ kommandiert Dirk nach 21 Kilometer. Er und Andreas wechseln so schnell wie möglich die Plätze. Wir anderen halten die Ruderblätter zum Stabilisieren fest auf der Wasseroberfläche. Dann greifen wir nach unseren Trinkflaschen und nehmen hastig ein paar Schluck. „Alles voraus“, kommandiert jetzt Andreas, „und los!“ geht es schon wieder weiter. Stefan ist am besten im Training, weil er sich bereits für die Regatta am Elfrather See vor 14 Tagen intensiv vorbereitet hatte und verzichtet deshalb aufs Steuern. Dörte und ich dürfen nicht steuern, denn schließlich sind wir als „Mixed“ gemeldet und da müssen die ganze Zeit über jeweils zwei Vertreter eines Geschlechts rudern.
Zons, Benrath, Neuss und Weite
Wir passieren die Zollfeste Zons und den Ruderclub in Düsseldorf Benrath, fahren dann unter der Fleher Brücke mit ihrem typischen Y-förmigen Pylon hindurch. Linksrheinisch wissen wir Neuss, rechts sehen wir weite landwirtschaftliche Flächen auf dem Stadtgebiet der dichtbesiedelten Landeshauptstadt.
Das Boot fällt auseinander
Ich merke, wie meine Kräfte schwinden. „Und zieht“, versucht Andreas uns anzuspornen. Aber das geht nicht gut. Ich habe Pudding in meinen Beinmuskeln. Mühsam gelingt es mir im Rhythmus der anderen zu bleiben. Starr ist mein Blick auf Stefans Rücken gerichtet. „Susanne, Du schlägst vor!“ Hart spricht mich Andreas persönlich an. Ich weiß es ja und schäme mich, dass ich daran schuld bin, dass das Boot auseinander fällt und wir unsere Kräfte nicht effizient bündeln können.
Meine Kräfte schwinden
Aber ich kann mich einfach nicht mehr konzentrieren. Mein übliches Trainingspensum liegt bei 14 Kilometer im Hafen oder 18 Kilometer (stromauf und stromab jeweils 9 Kilometer) auf dem Rhein. Das hier ist jetzt etwas ganz anderes! Auch wenn ich mich darum bemühe, mich parallel zu Stefan zu bewegen, bleiben ihm mit einer Länge von 1,90 Metern immer noch 10 Zentimeter, die er seine Arme weiter vorstrecken kann, wenn ich schon am Ende bin. Immer seltener gelingt es mir, diese kurze Phase still zu halten und erst mit Stefan gemeinsam die Ruder einzutauchen. Also beuge ich mich noch weiter vor, mache den Rücken krumm. Aber dann bringe ich kaum die Kraft auf, mich beim Durchziehen der Ruder wieder vollständig aufzurichten.
Der Rücken schmerzt
Mit aller Macht versuche ich es und es schmerzt bei jedem Zug. Eine Zeitlang rudere ich auf Sparflamme und bemühe mich lediglich, den Rhythmus mitzuhalten, damit ich nicht den Krafteinsatz der anderen behindere. „Die Beine treten“, kommt es von Stefan. Der sieht mich zwar nicht, aber er spürt genau, dass der Schub von hinten ausbleibt. „Soll ich es dennoch versuchen“, überlege ich. Aber ich weiß auch, dass mich beim Anlegen keiner aus dem Boot heben und an Land tragen kann, sondern dass auch meine Hand dabei gebraucht wird. Somit ist die Entscheidung gefallen: Ich muss Stefans Mahnung ignorieren.
Ein überholendes Schiff mobilisiert die letzten Kräfte
Nach ein paar Kilometer geht es mir wieder besser. Andreas nutzt die Wellen eines Schiffs, das uns überholt. Als dessen Heck auf unserer Höhe ist, treibt er uns an, wir ziehen kräftig und reiten eine Weile auf der Welle, die uns mitträgt. Das mobilisiert unsere Kräfte und die Ziellinie überfahren wir wieder konzentriert und schnell.
Die Party beim Ruderclub Germania Düsseldorf
Bei Germania ist die Party schon in vollem Gange. Viele Menschen in türkisfarbenen T-Shirts, die sie als Teilnehmer der Rheinmarathons erwerben konnten, Kaffee, Bier (= Alt, das unglaublich frisch schmeckt), Bratwürste, Steaks, Kuchen … (das alles zu wirklich zivilen Preisen), alte Freunde, die sich zufällig treffen.Alle Biertische stehen in der milden Herbstsonne und sind restlos belegt. Dörte sucht sich eine Stufe, auf der sie sich niederlässt. Ich muss stehen, kann meine Wirbelsäule nicht schon wieder abwinkeln. Wir trinken Bier mit Petra Schimanski, Stefans Freundin, die unseren Zieleinlauf gefilmt hat, wir trinken Bier mit „den Krefeldern“ (der Mannschaft des CRCs), die 10 Sekunden schneller war als wir.
Zurück zum UeRC – Stefans Platz bleibt leer.
Um 17 Uhr steigen wir wieder ins Boot. Wir wollen uns die Mühe sparen, den Hänger hierher zu holen, das Boot abzuriggern, aufzuladen, die wenigen Kilometer bis zu unserem Club zu fahren und dort wieder abzuladen. Lieber noch ein Stück rudern. Stefan wird nicht mehr dabei sein. Er hat – wie immer – alles gegeben und war ohnehin durch Lauftraining am Wochenanfang mit Muskelkater belastet. „Jetzt tut mir das Bein zu sehr weh“, sagt er und fährt mit Petra nach Hause. Als wirklicher Athlet ist er stets zu höchster Leistung bereit, weiß aber auch genau, was er seinem Körper zumuten darf. Sein Platz bleibt leer.
Anspannung bei der Fahrt durch Düsseldorf
Ich bin dankbar den Steuerplatz einnehmen zu dürfen. Dirk sitzt mir auf Schlag gegenüber. 26 Kilometer sind es noch bis zuhause. Angespannt bin ich besonders auf dem Stück durch die Innenstadt, das nach der Einfahrt zum Neusser Hafen beginnt. Dort müssen wir von rechts auf die linksrheinische Seite wechseln, aber der Knick unter der Rheinkniebrücke versperrt die Sicht auf den bergauf fahrenden Schiffsverkehr. Da gilt es Geduld zu haben und den richtigen Moment abzupassen. Unter der Oberkasseler Brücke ist es bereits entspannter, nach der Theodor-Heuss-Brücke geht es lange gerade aus.
Die letzten langen Kilometer
Wir passieren das Messegelände. „Ich sehe schon die Flughafen-Brücke“, verkünde ich meiner Mannschaft. „Nur“ noch zehn Kilometer. Wir passieren die Fähre zwischen Langst-Kierst und Kaiserswerth, wo wir sonst, beim wöchentlichen Training, anlegen. Jetzt sind es nur noch 9 Kilometer. Heimatliches Gefilde. Hier kennen wir so ziemlich jede Kribbe und jede Untiefe. Leider beginnt es zu regnen. Die Mannschaft braucht eine Pause, will etwas trinken.
„Dörte, willst Du jetzt steuern?“ frage ich sie. So richtig „nein“, sagt sie zwar nicht, aber auch nicht so richtig „ja“. Zumindest höre ich es nicht und weil es schrecklich umständlich wäre, mit ihr, die am weitesten von mir entfernt sitzt, über drei andere Ruderplätze hinweg zu tauschen, sage ich „alles vorraus – los“ und es geht weiter. „Beim Aschlöcksken wird es aufhören“, ermutige ich Dirk, dem ausnahmsweise nicht der Schweiß, sondern der Regen von den Ohrläppchen tropft. Meine Prognose stimmt sogar, aber die letzte Meter bis zum Club sind irgendwie trotzdem ungemütlich und ziehen sich schlimmer als Kaugummi. Wir sind froh, dass wir vor Einbrechen der Dunkelheit unter der Uerdinger Rheinbrücke ankommen.
Das Aufstehen am Morgen danach
Nach dieser inneren Rückschau auf den Samstag des Rheinmarathon öffne ich erneut die Augen. Der Wecker zeigt inzwischen 9.30 Uhr. Die Blase drückt. Ich stehe auf. „Unglaublich“, denke ich noch einmal rückblickend. Dörtes Leistung war wirklich beeindruckend. „Sie hat die kompletten 69 Kilometer an diesem Tag durchgerudert. Wie hat sie das nur geschafft?“ Und noch dazu klaglos. Sie ist mindestens zehn Zentimeter kleiner als ich, dürfte also noch viel mehr Probleme damit haben, mit Stefans Länge beim Vorrollen und In-die-Auslage-Gehen mitzuhalten.
Jammern über die Erschöpfung
Als hätte er es abgewartet, klingelt das Telefon beim Rückweg von der Toilette. Mein Kumpel Uwe ist dran. Ich lasse ihn kaum zu Wort kommen und fange an zu jammern: „Meine Beine tun weh und meine Oberarme und mein Rücken und die Hände …“ Bevor ich ins Detail gehen kann, unterbricht er mich: „Ja, okay, Du bist jetzt platt. Aber bitte erzähle mir nicht, dass Du das nicht vorher gewusst hast und dieses Gefühl nicht gewollt hast.“ Augenblicklich bin ich still, schweige schmollend. „Heute ist Sonntag“, setzt er nach. „Du hast alle Zeit der Welt Dich auf der Couch zu erholen.“ Ich blicke aus dem Fenster, sehe den trüben Himmel und stimme ihm zu.
Stolz auf die Strapaze
Bevor ich es mir wieder auf der Couch bequem mache, hole ich endlich mein T-Shirt mit dem Logo des Rheinmarathon aus seiner Verpackung, ziehe es über und trage es den restlichen Tag voller Stolz. Auch wenn es niemand sieht! Doch, ich mag es, alles zu geben, ich mag es, am anderen Tag platt zu sein und endlich mal ohne schlechtes Gewissen faul zu sein und rumzulümmeln.
Susanne Böhling, Oktober 2016
www.boehling.de